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Nicht nur auf Bäume klettern ist politisch
- ein rückblickender Geburtstagsgruß
(von Susanne Bischoff)

Erinnerung hält unsere Geschichte fest, lässt uns gegenwärtig oft Unverständliches ordnen und verstehen. Wir schauen zurück im Jetzt und können das Morgen er - finden. Um Seitenwechsel herum gibt es sicher ganz viele persönliche Geschichten und jede einzelne - mit allen nur möglichen Wider-sprüchen - ist wichtig, denn in diesem Erinnern schaffen wir einzeln und gemeinsam auch Wirklichkeit und Zukunft - die Politik der Existenz. Zum Geburtstag von Seitenwechsel schreibe ich deshalb einige meiner Erinnerungen für euch auf. Sollte mein Gedächtnis dabei sehr arge Sprünge machen und sich objektive Fehler eingeschlichen haben, korrigiert mich bitte.

Von Köln nach Berlin gezogen entdeckte ich 1982 das Lestra - autonomer Lesbentreff und Beratung, damals ein Raum im Frauenzentrum mit Cafè und Veranstaltungen. Schnell fühlte ich mich politisch und persönlich zuhause. Mit meiner inneren Heimat Sport als ehemalige Leistungssportlerin, Unterrichtende und einem während des Sportstudiums mitentwickelten Ansatz alternativen Sports schien meine selbst gewählte Berliner Lesbenwelt allerdings nichts mehr gemein zu haben - und in "die Institutionen" wollte ich beruflich keinesfalls. Sport machte eine, wenn, dann im Kampfsportzentrum der Hauptstraße in Selbstverteidigung oder Karate bei Martha. Oder sie fuhr Rad statt U-Bahn. Vereinzelt gab es lose Lesbenfußballtreffen, doch Sport als eigenständiger Bereich der Frauenbewegung war noch kein Thema für feministische Lesben bzw. andere feministische Frauen. Der Körper fand sich damals in dem Beginn der Frauengesundheitsbewegung wieder. Folglich ahnte ich nicht, als mich im Herbst einige der Lestras fragten, ob ich nicht Lust hätte, eine Sportgruppe zu initiieren, was aus dieser kleinen Wurzel wachsen könnte und würde. Mangels Turnhalle begannen wir im Tiergarten auf Bäume zu klettern, versuchten die Amazonenstatue zu erklimmen und spielten Fußball mit einem Ball von Aldi. Alte Fahrradschläuche, Bettlaken und Pappkartons erweiterten das low-budget-Geräterepertoire für Körpererfahrung und kämpferische Spiele.

Im Spätherbst bekamen wir eine Turnhalle und - mutig geworden - bot ich parallel während der Frauensommeruniversität zwei Veranstaltungen an: "de-sport-are = sich vergnügen". Weil Sport auch dort keineswegs vorgesehen war, gab es keine Turnhalle, sondern einen teppichbodenbelegten großen Seminarraum in der Rostlaube. Die mehr als 30 Frauen tobten sich nach meinen Bewegungsimpulsen köstlich aus, purzelten verspielt und verletzungsfrei übereinander. Heute kaum vorstellbar: einige Frauen knoteten Fahrradschläuche und Bettlaken an die stabilen Lichtleisten und schaukelten freudig daran! Ich war zutiefst beeindruckt, hielt die erwünschte Folgeveranstaltung ab und: schrieb meinen ersten Artikel für den Lesbenstich. In der Folgezeit gründete ich mit dem Rahmen und der Unterstützung des Lestras schrittweise autonome, d.h. vereins- und verbandsunabhängige allgemeine Lesben- und Frauensportgruppen sowie auf Wunsch einer dicken Lesbe, eine Dickenlesbengruppe. Es dauerte etwas länger, bis mein Bedürfnis nach einer Lesbenvolleyballgruppe ausreichend Mitspielerinnen für eine kontinuierliche Trainingsgruppe fand.

Anfänglich war es nur mit Tricks möglich, ohne Verein im Hintergrund, eine Turnhalle zu bekommen - zumal es einige Jahre brauchte, bis eine Lesbensportgruppe auch den Bezirksämtern gegenüber offen auftreten konnte. Und in den Schulen gab es manchen Ärger mit Hausmeistern, die über ihre eigentliche Arbeit hinaus versuchten, uns Frauen beim Sport zuzuschauen. Doch auch im Umgang mit diesen und anderen unliebsamen Zuschauern bekamen wir Übung. Über die Auseinandersetzung mir mitgeteilter, anfänglich kaum verstehbarer Ängste im Sport (das Bild der großen starken, doppelaxtschwingenden Lesbe noch recht präsent), häufig schlechten Schulsporterfahrungen sowie die Auseinandersetzung mit den psychosomatischen Folgen sexualisierter Gewalt und körperlichen Handicaps entwickelte ich nach und nach ein praktisches Konzept eines eigenständigen Weges. Noch ohne Namen - wie sollte frau etwas nennen, bei dem wir über Fußgängergelände sprangen und auf Bäume kletterten, Tauklettern auch zum Überlebenstraining in Notfallsituationen wurde, entspannendes Rollen des Rückens auf Matten mit Judorolle und Aufstehen in den sicheren Stand verbanden, kuschelten, tanzten und beim Schlagen des Balles Ängste in der Selbstverteidigung thematisierten und spielerisch lösten? Später wurde daraus "FrauenSport" als Sport- und Bewegungsarten übergreifendes Konzept parteilichen Sports für Frauen und Mädchen .

Die Nachfrage nahm zu, feministische Sportlehrerinnen fingen an sich zu suchen. Dank Doris Schmidts - als fest angestellter, organisierender Sportlehrerin - persönlichem Kraftakt konnte im Hochschulsport der TU Berlin ab 1984/85 ein in den Hochzeiten bis zu 49 Kurse umfassenden Frauenschwerpunkt eingerichtet werden. Neben FrauenSport gab es u.a. Ball- und Sportspiele, Gymnastik, Krafttraining/Akrobatik, Rollstuhlbasketball, Schwimmen, Tennis, Volleyball, WenDo und nicht zuletzt: Skikurse. Unterschiedlichste Kursleiterinnen mit verschiedenen Zugängen zu einem parteilichen Sportangebot (u.a. Regine Ulmer und Kirsten Lenk als Mitgründungsfrauen von Seitenwechsel) waren aktiv beteiligt in einer nicht immer einfachen Zeit: denn "wir "autonomen" wollten möglichst alles und das sofort: endlich Bewegungsraum von Frauen für Frauen, der nicht durch Sexismus, Lesbenfeindlichkeit, schlechte Trainingszeiten, Idealisierung von Jugendlichkeit, Fitnessideale der Heterowelt beeinträchtigt war! 1987 schließlich benannte die Bielefelderin Heidi Scheffel das, was sich parallel als bundesweite - durchaus nicht immer einige - Zusammenschlüsse von Praktikerinnen, Forscherinnen, Vereins-, Verbands-, Schul- und Institutsfrauen tat, als "feministische Sport- und Bewegungskultur". Ein sprachlich und politisch dringend notwendiger Name war gefunden für inhaltliche Ansätze und politische Handlungsweisen durchaus unterschiedlicher Couleur.

In meinem unmittelbaren Umfeld gab es nun auch die Neuentdeckung von Wettkampf: initiiert durch unsere Anzeige in Emma entwickelten sich anfänglich aus zwei Teams bestehende Lesbenvolleyballturniere zwischen Berlin und Hamburg, die nach der 2. Berliner Lesbenwoche 1986 allmählich auch zu anderen Städten wanderten. Neue Gruppen entstanden, Trainerinnen kamen. Und: mein Herzenslesbenvolleyballteam entließ mich als Trainerin - eine bittere, doch im nachherein wichtige und heilsame Erfahrung. Nicht zuletzt darin, meine Neugier auf Bewegung im Unterricht über die Jahre tatsächlich zum Beruf auch als stabile Erwerbsquelle werden zu lassen und mit Freude im Handeln Feministin zu bleiben.

Zurück zur Erinnerung: Frauen- und Lesbensport war und wurde Thema, eher ganz praktisch, in Vereinen oder bei den Lesenfrühlingstreffen. Paartanz wurde - nicht unumstritten - zum neuen Hit der Frauenbewegung . Für mich und andere Frauen bedeutete feministische Sport- und Bewegungskultur immer auch theoretische Auseinandersetzung z.B. während der Frauensportseminaren des Allgemeinen deutschen Hochschulsportverbandes (adh), bei Vorträgen, Seminaren, Veröffentlichungen zur Notwendigkeit eines parteiischen Mädchen- und Frauensports quer zu den schul-, vereins- und anderen Möglichkeiten. Das Erfahrungsfeld wuchs z.B. durch Volkshochschulkurse: andere, vor allem auch ältere Frauen wurden erreicht, neue Fragen aufgeworfen: zwar versteckte ich auch dort nicht meine lesbisch Identität und meinen Standort als Feministin, doch als Bewegung Unterrichtende ging es eher um positive Unterstützung jeder Teilnehmerin, denn um Konfrontation mit politisch bei vielen angstbesetzten Themen.
Damals leitete ich die Woche 11-13 Kurse, zusätzlich WenDo-Wochenenden. Dabei achtete ich sehr auf weibliche Sprache, grundsätzlich und speziell auf die Sportsprache: eben nicht von Mannschaft - die wörtliche Bedeutung ist ein "Geklüngel von Männern", demzufolge Frauen-Mannschaft ein greuliches Wortkonstrukt -, sondern bewusst von Team zu sprechen. Den geschlechtsneutralen Amerikanismus ziehe ich bis heute dem der deutschsprachigen "Frauschaft" vor, weil durch die faschistische Bewertung "Frauschaft" für viele keine sprachliche Möglichkeit darstellt. Ich erinnere mich: montags bis donnerstags war ich selbstverständlich gut in "Femisprach", doch freitags, während meiner "Herzensangelegenheit" autonomes Lesbenvolleyballteam, rutschte mir schon ein "man macht" oder "sein Bein" oder leidliche "Mannschaft" heraus. Abnutzungserscheinungen einer selbst noch nicht tief gefestigten Sprache durch das permanent gegen die Umwelt sprachliche "dagegenhalten". Doch Übung, Gelassenheit und Humor machen schließlich die Meisterin.

Andere Städte gründeten früher einen eigenständigen Frauensportverein. Das lag wesentlich daran, dass der Hochschulsport an der TU Berlin etliche Jahre einen guten Rahmen und relative gute Entwicklungsmöglichkeiten für Trainerinnen und Teilnehmerinnen bot, zudem - anders als in den meisten anderen Städten - an der TU nicht nur Studentinnen teilnehmen können. Zusätzlich gab es in Berlin (West) eben auch das Selbstvereidigungs- und Kampfsportzentrum der Hauptstraße, später die Schokoladenfabrik mit einem sich ausweitenden Bewegungsangebot oder existiert(e) Außer Atem mit einem Schwerpunkt auf Gymnastik. Seitenwechsel entstand vergleichsweise spät und brauchte nach der Gründung Zeit für die Entwicklung eines eigenen Profils mit den unterschiedlichen FrauenLesben. Der Namensstreit forderte ebenso Raum wie die inhaltliche Diskussion und auch: die bereits existierenden autonomen Gruppen, wie die Volleyballgruppen, in den Verein zu integrieren. Schließlich war die geliebte Autonomie lange gut gegangen und die Furcht vor Vereinsmeierinnen groß. Als Trainerin wünschte ich mir allerdings sehr eine Einbindung - aus inhaltlichen Gründen oder auch zur finanziellen Absicherung bei Krankheit.

Kurz nach der Öffnung der Mauer verließ ich 1990 Berlin wegen der Liebe und dabei die Tochter meiner früheren Lebensgefährtin im Wachsen zu begleiten. Seitenwechsel habe ich als eine innere Basis in mir mitgetragen, in und um Kassel - beruflich von vorne anfangend - Wege für einen feministisch Bewegungskultur gesucht. Ich habe Kanuwandern, Aikido, Kreistanz, Heilenergiearbeit, Bewegungstherapie und als eigenen Bewegungsansatz "StockEnergie" entdeckt und mich fortgebildet. Einiges davon - z.B. feministische Selbstverteidigung und FrauenSport - vermittle ich seit knapp vier Jahren als sportliche Leiterin in einer Werkstatt für erwachsene Menschen mit so genannten geistigen Handicaps und Mehrfachbehinderungen. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Beitrages habe ich nach monatelangen Vorbereitungen mit einer Projektgruppe "meiner Leute" (Frauen und Männer) für einen Tag lang ein großes, rollstuhlgerechtes Backsteinlabyrinth in die City gelegt, was eifrig zum Gehen, Tanzen, Spielen und Rollstuhlfahren von Kindern und Erwachsenen genutzt wurde. Labyrinthe: für mich die faszinierendste Form für Tanz, Spiel, Begegnung, Schutz, sich selber ordnend und darin frei zu bewegen. Wenige Monate davor war ich mit drei Tischtennisspielerinnen als Coach in Dublin bei den Special Olympics, der in Deutschland noch viel zu wenig bekannte Olympiade für Menschen mit geistigen Handicaps - ein großartiges Erlebnis. In dem ganzen Bereich Handicap gibt es allerdings noch viel zu tun, damit Frauen und Mädchen wirklich sportlich gefördert und herausgefordert werden.

Mein Beruf über zwei Jahrzehnte seit dem ersten Klettern auf die Bäume des Berliner Tiergartens ist viel bewegter Lebenspfad geblieben. Dazu gehören Phasen von Orientierungslosigkeit, Verletzungsfolgen, Öffnen und Lernen in Spiritualität, Heilweisen und Bewegungstherapie auch mit Fragen nach Inhalten und pädagogischen Methoden der Bewegung mit dem Körper. Geblieben ist etwas aus der Zeit der ersten Stunden vor nunmehr 20 Jahren, an das ich mich immer wieder mit einer der Begründerin und mir nach wie vor besten Freundin der ersten Lesbensportgruppe, Brigitte Gröver, erinnere: die nach Audre Lorde "pure Lust" am Leben von eigenwilligen Frauen und Mädchen in Bewegung - überall und an jedem Ort. Der Trend der Zeit ist allerdings, dass Mädchen und Frauen sich im Freizeitmarkt Fun-Fitness faltenlos bodygestylt in Barbiepuppenmanier einpassen.

Zum Abschluss meine Herzenswünsche für Seitenwechsel aus der Perspektive meines Lebensraumes: Kassel hat bis heute keinen Frauen- und Mädchensportverein. Das macht vieles bruchstückhaft. Allerdings existiert an der Fulda einer der ältesten Frauensportvereine Deutschlands: der "Casseler Frauen-Ruderverein" - seit 1913! Möge Seitenwechsel als mittlerweile Europas größter Frauen- und Mädchensportverein, der nicht zuletzt explizit Raum für Lesben schafft, mit alten und jungen Frauen dieses Alter erreichen und noch viele Impulse für Bewegung und Sport geben! Sollten 2010 die Gay Games wirklich nach Berlin kommen, wäre das ein weiterer Meilenstein - zum 22. Geburtstag! Ob bis dahin auch deutsche Fußball-Weltmeisterinnen offen lesbisch sein dürfen? Für mich war es überwältigend vor Ort zu erleben wie in "ganz" Australien nicht zuletzt heterosexuelle Frauen und Männer begeistert waren von den Gay Games in Sydney. Mir selbst wünsche ich, 2010 in Berlin oder anderswo mit 55 Lebensjahren bewegt dabei zu sein.