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Das Schulsporttrauma
Ein radikalsubjektiver Essay zur weiblichen Bewegungsbiographie.
(von Sabine Flohr)

Sie hieß Marianne und hatte lange rote Haare. Marianne wurde später Landtagsabgeordnete und bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Doch zunächst war sie unsere Turnlehrerin. Obwohl – Turnen hieß dieses Unterrichtsfach seit Beginn der 7. Klasse nicht mehr, es hieß nun Sport. Durch den Schulwechsel nach der Orientierungsstufe hatte ich die wilhelminische Turnhalle der Grundschule eingetauscht gegen einen hellen Neubau aus Glasbausteinen. Schön, großzügig, freundlich. Genauso schön, genauso großzügig und genauso freundlich wie Marianne, bei der wir nun zum Abschluss des Sportunterrichtes im Kreis sitzen sollten, die Augen geschlossen, um tief in uns hineinzuspüren. Dreißig Zwölfjährige – von kindlich bis hochpubertär – im Schneidersitz auf dem Linoleumboden hockend.

Ich spürte nichts, wenn ich da mit den anderen im Kreis saß. Das Ganze war mir allenfalls peinlich – peinlich allerdings eher für Marianne als für mich. Kannte sie denn die Spielregeln nicht? TurnlehrerInnen brüllten doch und besaßen eine Trillerpfeife, mit deren Pfiffen sie Kinder wie mich durch die Halle oder über den Sportplatz trieben!

Erste Lektionen
Tatsächlich war das klassische Turnen nicht meine Sache. Und auch in anderen Bereichen des Schulsports war ich eher langsam und ungeschickt. Ob Laufen, Springen, Schwimmen oder Ballfangen – ich erfüllte nicht die Anforderungen. Aus der zeitlichen Distanz lässt sich kritisch formulieren: Den „TurnlehrerInnen“ der ersten sechs Klassen gelang es nicht, den Unterricht so zu gestalten, dass auch für ein ungeschicktes Kind, das zu Hause keine sportliche Förderung erfuhr, die Freude an der Bewegung erhalten blieb. Der Unterricht war nicht darauf angelegt, die Lust am Lernen unterschiedlicher Bewegungsarten zu vermitteln oder zu fördern. Besser zu sein oder doch zumindest gut genug, das war das Lernziel. Das Kennenlernen von Sportarten, das Erlernen von Techniken konnte ich nicht als bereichernd erfahren, da meine „Ergebnisse“ unterhalb des Standards blieben.

So stellte der Sportunterricht schnell eine fortgesetzte Lektion des Scheiterns dar. Immer die Letzte, die von den zwei Mannschaftsführern für die Ballmannschaft ausgesucht wurde, immer die Erste, die beim Völkerball abgeschossen wurde und wieder auf der Bank landete. Ich hasste es, immer noch als kleines Bleigewicht an den Seilen zu hängen, während alle anderen sich längst bis zur Hallendecke hoch gehangelt hatten. Mit der Erfahrung des Scheiterns an der Norm übernahm ich die Zuschreibung „unsportlich“ als Selbstdefinition. Meine kindliche Bewegungserfahrung spielte sich in zwei völlig voneinander getrennten Welten ab: Es gab den Schulsport, bei dem ich versagte – und es gab die Bewegung in der Freizeit: Federball, Rollschuh – das machte Spaß, aber das war eben kein Sport! Schließlich hatte ich gelernt, dass ich unsportlich war.

Die beschriebenen Mechanismen spielen sich auch in allen anderen Bereichen schulischen Lernens ab. Ebenso treibt in einer Gesellschaft, die insgesamt auf Konkurrenz und Auswahl nach Leistung basiert, nicht Schule allein diese Prozesse voran. Unsportlich, unmusikalisch, für Sprachen nicht begabt ... wohl die meisten Kinder lernen schon früh ihre Schullektion: Sie sind nicht tauglich für dies oder für jenes, und sie übernehmen diese Zuschreibungen für ihr weiteres Leben. Wer sich selbst immer wieder als unsportlich erfährt, entwickelt Angst statt Neugier. Anders formuliert: Schulsport macht (manche Kinder) unsportlich.

Erstarrende Bewegungen
Dabei erscheint mir die Konsequenz, den eigenen Bewegungsraum durch die Fremd- und Selbst-Definition „unsportlich“ einzuschränken, als ein Muster, das in unserer Gesellschaft eher Mädchen und Frauen nahegelegt wird.

Schließlich mobilisiert Schulsport Ängste und lehrt als Umgang damit, diese zu ignorieren. Es erfüllte mich mit Angst, am Stufenbarren zu hängen, den Blick in die Tiefe. Jeden Moment konnte ich abstürzen und tot sein. Das war sogar sehr wahrscheinlich. Die einzige Strategie schien mir damals, die Augen zu schließen, zu tun, was von mir verlangt wurde, und gleichzeitig meine Gefühle auszublenden. Ich stürzte mich also voller Panik in den Abgrund. Das Auftauchen aus der Panik war kein Triumph. Ich hatte meine Grenzen nicht überwunden, sondern niedergetrampelt. Auch diese Lektion – Augen zu und durch – ist keine schulische allein, sondern wird gesamtgesellschaftlich vermittelt. Im Unterschied zur Beschränkung des Bewegungsraumes ist dies ein Muster, das auch Jungen angeboten wird. Doch wird zumindest „stärkeren“ Jungen als Alternative der Weg aufgezeigt, Ängste als Aggressivität nach außen zu wenden. So ist auch diese Lektion des Schulsports nicht geschlechtsneutral.

Heute heißt es in der Pädagogik, man solle die Kinder dort abholen, wo sie sind. Aber an diesem Punkt kam Marianne zu spät. In der 7. Klasse hatte ich schon lange meinen individuellen Weg entwickelt, mit den vielfältigen Schrecken des Schulsports umzugehen. Dazu gehörte auch, Sport – ob in der Schule oder im Verein – generell als unwichtig abzutun.

Ausblicke
Die Situation im Sportunterricht verbesserte sich für mich ab der 11. Klasse mit dem Kurssystem. Der Unterricht wurde erträglich.Auch im Grundkurs Sport gab es jetzt mehr wöchentliche Unterrichtszeit zum Lernen und kleinere Gruppen, in denen sogar ich mich vorsichtig an die nun selbst ausgewählten Sportarten herantasten konnte. Das Kurssystem war nicht Utopia. Immer noch gab es Trillerpfeifen, Konkurrenz und Noten. Doch hier waren zumindest Ansätze für einen anderen Sportunterricht erfahrbar. Die Grenzen eines freieren Unterrichts im Rahmen einer patriarchalen Leistungsgesellschaft liegen auf der Hand. Dass ich Sport ausüben kann, darf und das gern tue, wurde mir erst im „höheren Alter“ klar. Da stürzte ich mich mit Begeisterung auf WenDo, Stockkampf und Standardtanz. Aus meiner Geschichte heraus schätze ich Seitenwechsel neben anderen Berliner Frauensport- Orten als Verein, in dem ich unterschiedliches ausprobieren kann, wo Breitensport mit Spaß betrieben werden kann, ohne Leistungszwang, Körper- und Gesundheitsnormen. Hier kann frau „anders“ Sport treiben: mit Lust am Ausprobieren und daran, in Bewegung zu bleiben.